Westliche Werte in der Zeitenwende – mit Melanie Kehr und Constanze Stelzenmüller

Shownotes

Die westlichen Demokratien und ihre Gesellschaften stehen vor gewaltigen Transformationsleistungen: Klimakrise sowie geopolitische und geoökonomische Herausforderungen müssen vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Krisen bewältigt, internationale Beziehungen vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine neu überdacht werden. Dr. Constanze Stelzenmüller, Director des Center on the United States and Europe bei der Brookings Institution, und Melanie Kehr, als Vorstand der KfW Bankengruppe u.a. verantwortlich für die IT und die Digitalisierung, diskutieren über den Krieg in der Ukraine, westliche Werte im Wettbewerb mit Autokratien, Transformation und nachhaltige Wirtschaftsbeziehungen. Wie hängen Marshallplan und 75 Jahre KfW eigentlich zusammen? Und wie könnte eine Art neuer Marshallplan für die Ukraine aussehen? Hören Sie rein ins Insider-Gespräch des KfW-Vorstandspodcasts!

75 Jahre KfW | KfW Stories

Brookings - Quality. Independence. Impact.

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KfW Podcast „Transformation gestalten. Der Vorstandspodcast der KfW“

Internationale Beziehungen in der Zeitenwende

CS Dieser Krieg ist noch nicht ausgestanden und wenn wir Pech haben, kann der auch noch länger dauern. Das ist der Rahmen, in dem wir über unsere eigene Sicherheit und unsere eigene Demokratie und den Schutz unseres Wohlstandes nachdenken müssen. Das verlangt von uns in der Tat gewaltige Transformationsleistungen, aber bei denen Klimaschutz natürlich nicht zu kurz kommen darf. Geopolitik, Geoökonomie und Klima.

MK Wir leben gerade im Jahrzehnt der Entscheidung. Ich denke, es ist auch das Jahrzehnt der Umsetzung. Und ich glaube, es liegt jetzt an uns, den Weg auch so zu ebnen, damit wir hier gut unterstützen können. Dafür ist Resilienz gefragt. Wir transformieren uns in der KfW auch ganz massiv, auch nach innen hinein, um uns eben für die Zukunft gut aufzustellen.

AB Herzlich willkommen! Mein Name ist Alia Begisheva. Ich führe heute durch unseren neuen Podcast „Transformation gestalten“ der KfW Bankengruppe. Mit dabei ist heute Melanie Kehr, Mitglied des Vorstandes der KfW. Sie ist eine der wenigen IT-Vorstände in Deutschland und ist in der KfW auch für das Thema Digitalisierung zuständig. Außerdem wird ihr Bereich in Krisenzeiten, wie das zuletzt bei der Corona-Pandemie war, noch wichtiger. Ganz besonders freue ich mich auf meinen zweiten Gast, Dr. Constanze Stelzenmüller. Sie ist zu uns aus Washington gekommen nach Berlin, in unsere Berliner Niederlassung, mitten im Herzen Berlins, am Gendarmenmarkt. In Washington arbeitet sie an der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution. Das ist ein unabhängiger Thinktank mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Außenpolitik und Staatsführung. Und dort leitet Frau Dr. Stelzenmüller das Center for the US and Europe. Außerdem war sie Direktorin des German Marshall Fund. Schön, dass Sie da sind! Herzlich willkommen, Frau Kehr! Herzlich willkommen, Frau Dr. Stelzenmüller!

CS Vielen Dank für die Einladung!

MK Ich freue mich sehr, dass ich hier sein darf!

AB Und meine erste Frage an Sie ist: Ihre beiden Institutionen, also die jetzige, an der Sie heute arbeiten, die Brookings Institution, aber auch der German Marshall Fund sind eng mit der KfW verbunden. Könnten Sie bitte zu diesem Hintergrund uns etwas sagen?

CS Sehr gerne. Also der German Marshall Fund ist entstanden als Schenkung von Willy Brandt 1972 zum Dank für den Marshallplan, für die Mittel, die Deutschland erhalten hat. Und Deutschland war, wenn ich mich recht an die Geschichte erinnere, das einzige Land, das einen Teil der Marshallplanmittel aus Amerika investiert hat, sodass sie sozusagen Zinsen sammelten. Das war den Amerikanern aufgefallen. Und dann hat Willy Brandt den Amerikanern 150 Millionen Deutsche Mark geschenkt zur Schaffung einer Stiftung amerikanischen Rechts, zur Förderung der transatlantischen Beziehungen. Das war der German Marshall Fund of the United States. Brookings ist geschaffen worden auf Anregung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson 1916, weil der sagte: Ein amerikanischer Präsident braucht wissenschaftliche quantitative Beratung. Und das waren erst mal ein paar Dutzend natürlich männliche weiße Ökonomen, die in einem Gebäude an der Massachusetts Avenue saßen. Aber die haben damals das Zahlenwerk des gesamten Marshallplans ausgearbeitet.

AB Genau. Und das mündete 1948 in einer berühmten Rede an der Oxford Universität von George Marshall, dem damaligen Außenminister der USA, der sich sicherlich auch eine gute Zukunft für Deutschland und Europa gewünscht hat. Wenn Sie jetzt vergleichen das, was damals propagiert wurde und was wir heute sehen, glauben Sie, George Marshall hätte einen Grund, stolz auf seinen Plan zu sein?

CS George Marshall war ja eigentlich ein General, der aus relativ einfachen Verhältnissen stammte, auch ein einfacher Mann war. Ich bin auf seiner Farm im Nordwesten Virginias gewesen, wo er noch als General sein – nicht nur seinen Gemüsegarten gepflegt hat, sondern auf Dienstreisen als Außenminister später gerne eine Gemüsekiste mitnahm und sie dann Leuten an der Botschaft schenkte, insbesondere in Ostblockstaaten. Und der hatte, glaube ich, als General im Zweiten Weltkrieg die Zerstörung Europas gesehen. Und den hat das, glaube ich, so persönlich beeindruckt, dass er sich eben für diesen Wiederaufbau engagiert hat.

Der Marshallplan heißt offiziell European Recovery Program. Er war ein Wirtschaftsförderprogramm, mit dem die USA den Wiederaufbau der Staaten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützen wollten. Im Juni 1947 stellte der damalige amerikanische Außenminister George C. Marshall die Idee erstmals vor. In nur wenigen Monaten wurde das Programm entwickelt und nach schwierigen Verhandlungen zwischen den europäischen Staaten ein Konsens erzielt. Am 4. April 1948 trat der Marshallplan in Kraft. Bis 1952 wurden nach heutigem Wert knapp 142 Milliarden US-Dollar ausgezahlt. Die Motivation für das Programm lag vor allem in der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Länder Europas und darin, den sowjetischen Einfluss einzudämmen.

CS Man muss hier kontrastieren. Die Behandlung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag und den Reparationsforderungen und die gewaltige Großzügigkeit im Umgang mit dem Deutschland, das nicht nur den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, angefangen hatte, durchgezogen hat und auch den Holocaust begangen hatte, das eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, kapituliert hatte, die Anführer, bis auf Hitler, der tot war, waren vor – in Nürnberg vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt worden. Millionen von Menschen – in der Sowjetunion alleine 10 Millionen –, aber weitere Dutzende von Millionen in Europa alleine und natürlich ein Großteil von Europas Juden sind diesem Krieg zum Opfer gefallen. Und dann stellt sich Amerika hin und sagt: Wir machen einen Wiederaufbauplan für ganz Europa und auch für Deutschland, Deutschland lassen wir nicht aus. – Diese Großzügigkeit im Umgang mit einer Nation, die sich immerhin einem Verbrecherregime ergeben hatte, ist bemerkenswert. Und man muss auch sagen: Danach kam natürlich der Kalte Krieg und Europa war gespalten. Und der Warschauer Pakt durfte ja keine Marshallplan-Mittel annehmen. Das hatte die Sowjetunion untersagt. Aber dafür ist nach 89 und nach dem Fall – dem Fall der Mauer und der – und dem Verschwinden der Sowjetunion und des Warschauer Paktes dann langsam die EU und die NATO ausgeweitet worden. Und dann ist sozusagen über diese Ausweitung der Sicherheits- und Wohlstandszone Europa sozusagen Wohlstand auch von Westen nach Osten geflossen. Und eigentlich ist die Demokratisierung Europas nach 89/90 eine Spätfolge dieser Stabilisierung Westeuropas durch den Marshallplan, das ist eine gewaltige Leistung. Jetzt sehen wir natürlich mit dem Krieg in der Ukraine, dass diese Errungenschaften auch gefährdet sind, dass man sich gegen ihre Gefährdung wehren muss und dass man sozusagen das – die Angegriffenen – das ist die Ukraine – verteidigen muss, weil wir damit auch uns verteidigen. Insofern: Ich glaube, George Marshall hätte sicher gemischte Gefühle, aber er braucht nicht das Gefühl haben, dass sein Lebenswerk untergeht. Das, glaube ich, ist nicht in Gefahr.

AB Frau Kehr, die KfW ist ja aus dem Marshallplan hervorgegangen. 1948 ist sie gegründet worden. Wir feiern dieses Jahr ein Jubiläum. Und Sie arbeiten schon seit mehreren Jahren im Vorstand der KfW. Was bedeutet das für Sie, wenn Sie die Geschichte der KfW in Betracht ziehen?

MK Ja, erst mal bin ich stolz darauf, bei der KfW zu sein. Wenn man zurückblickt, 75 Jahre, dann sieht man, dass die KfW mit der Geschichte der Bundesrepublik sehr, sehr eng verbunden ist. Das hat natürlich damals direkt begonnen mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, dann nach der Wiedervereinigung Aufbau Ost, die Begleitung durch die Finanzkrise, die Corona-Hilfen. Also da ist schon sehr, sehr viel Historie auch in der KfW selbst verankert. Und insofern denke ich, haben wir hier einen großen Weg mitbegleitet. Und was viele nicht wissen – das habe ich auch erst selbst entdeckt –, ist, dass die – das Geld aus dem Marshallplan, das ERP-Sondervermögen, auch heute noch eingesetzt wird, um Innovationen zu finanzieren. Und ich finde, da kann man auch sehen, dass wir in der KfW einen sehr verantwortungsvollen Umgang mit den Mitteln zeigen. Das, denke ich, ist durchaus ein sehr positives Beispiel, Frau Stelzenmüller, Sie haben es ja auch schon erwähnt.

CS Also ja, wir haben in meiner – ich bin vor acht Jahren zu Brookings gekommen und wir haben in den ersten zwei, drei Jahren tatsächlich auch Fördermittel aus diesem Topf bekommen. Insofern – also die Kreise schließen sich hier gleich mehrfach, ja.

MK Das war jetzt der Blick zurück. Aber vielleicht, Frau Begisheva, erlauben Sie mir noch einen Blick nach vorn. Wichtig ist ja: Wie geht es jetzt eigentlich weiter, wenn man auf die Vergangenheit schaut? Und ich bin überzeugt davon, dass die KfW auch zukünftig Teil der Lösung sein wird. Unsere Aufgabe ist es ja, die Transformation der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität zu begleiten. Und da liegt noch viel vor uns. Und ich denke, dass wir da aus den Erfahrungen, die wir mitbringen, viel schöpfen können, um eben die Zukunft zu gestalten. Insofern: Wir müssen es halt anpacken. Reden reicht nicht, wir müssen ins Handeln kommen.

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau ist die größte nationale Förderbank der Welt. Sie unterstützt die Ziele der Bundesregierung mit speziellen Krediten und anderen Förderinstrumenten. Die KfW wurde im November 1948 gegründet, um den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu finanzieren. Damals stammten die Mittel aus dem Marshallplan. Heute fördert die KfW die Energieeffizienzmaßnahmen von Unternehmen und Privatpersonen in Deutschland, finanziert den Ausbau von erneuerbaren Energien und unterstützt die nachhaltige Entwicklung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Nach der Wende finanzierte die KfW den Aufbau Ost und spielte eine entscheidende Rolle nach der Finanzkrise und während der Corona-Pandemie. Nun hilft sie unter anderem deutschen Unternehmen, die unter den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine leiden. Eine Milliarde Euro KfW-Mittel flossen 2022 in die Unterstützung der Ukraine.

AB Nun haben wir tatsächlich Krieg mitten in Europa, Sie haben es schon angesprochen, Frau Dr. Stelzenmüller. Ich möchte jetzt zurück zum Marshallplan. Könnte der so eine Art Blaupause sein für alle möglichen Krisen und Kriege, die wir eventuell hoffentlich nicht mehr haben werden?

CS Ja, schön wäre das. Also ich sage einfach mal: Dieser Krieg ist noch nicht ausgestanden und wenn wir Pech haben, kann der auch noch länger dauern, jedenfalls wenn die beiden Seiten, die angegriffene Ukraine und der Angreifer Russland, sich gegenseitig militärisch in der Waage halten, was der Ukraine nicht zu wünschen ist, weil die – weil der Kreml mit einer solchen Brutalität vorgeht, dass das nicht mit anzuschauen ist. Und dabei werden ja auch sozusagen täglich sozusagen Normen und Werte verletzt, die wir sozusagen als die Grundlage des europäischen Gemeinwesens betrachten. Aber ich habe den Eindruck, dass es für den Kreml und auch für Putin selber hier um eine – eigentlich um eine Art von existenziellem Kampf geht und nicht nur um die Ukraine und deren Auslöschung als souveräne Nation, sondern eigentlich auch um den gesamten demokratischen Westen. Die Mitgliedschaft Europas in einem Bündnis mit den USA und die Rolle der USA als sozusagen Schirmherr für europäische Sicherheit, darum geht es Putin. Insofern ist die Ukraine eigentlich nur der Anstoß dafür. Und das ist der Rahmen, in dem wir über unsere eigene Sicherheit und unsere eigene Demokratie und den Schutz unseres Wohlstandes nachdenken müssen.

Und das verlangt von uns in der Tat gewaltige Transformationsleistungen, aber bei denen Klimaschutz natürlich nicht zu kurz kommen darf. Was wir hier sehen – und das erlebe ich jetzt dieser Tage bei Diskussionen in Berlin die ganze Zeit –, ist, dass hier zusammenkommen: Geopolitik, Geoökonomie und Klima. Und das ist für – also auch für einen hochentwickelten demokratischen Staat wie unseren und eine hochentwickelte demokratische Allianz, wie die EU und die NATO es sind, eine gewaltige Herausforderung, auch weil natürlich Bürger sich Sorgen machen und teilweise verängstigt sind. Die Frage ist: Wie nimmt man die mit? Wie erklärt man diesen Transformationsbedarf? Welche Kosten entstehen dabei? Was für Transformationskosten gibt es? Was sind Leute bereit zu tragen? Das muss man alles irgendwie erklären und vermitteln. Und das sind – ich verstehe wirklich, wenn sozusagen der normale Bürger sich das alles anschaut und sagt: Wie sollen wir das bloß alles schaffen?

AB Frau Kehr, die KfW steckt ja mittendrin in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation. Sie begleitet die Digitalisierung. Sie ist tatsächlich auch schon eingebunden in die Hilfen für die Ukraine. Was ist da die Rolle der KfW?

MK Die KfW ist schon seit den 90er-Jahren Partner der Ukraine und hat ein laufendes Portfolio von über einer Milliarde Euro. Das ist auch im Vergleich sehr, sehr ordentlich. Das fließt in den Finanzsektor, kommunale Infrastruktur, Energie. Das heißt, auch rückblickend haben wir da schon eine Partnerschaft. Wir haben jetzt seit Beginn des Krieges auch eine starke Unterstützung noch mal ausgebaut in der Aufrechterhaltung von staatlichen Funktionen, Hilfe für Binnenvertriebene und Nothilfe-Maßnahmen für Infrastruktur, insbesondere im Bereich Energie. So, wenn man jetzt nach vorne blickt, ist ja so ein bisschen die Frage: Wenn wir über den neuen Marshallplan reden, ab wann würde der eigentlich anfangen? Ich glaube, das Timing spielt da wahrscheinlich eine große Rolle. Aber man kann die Ukraine jetzt ja auch nicht hängen lassen. Deswegen sind diese Maßnahmen schon äußerst wichtig. Da kann man sich dann natürlich anschauen: Möchte man wieder in den Wiederaufbau der Infrastruktur gehen? Eine Unterstützung des Privatsektors halte ich auch für ganz, ganz wichtig, dass wir die Wirtschaftsförderung nicht außer Acht lassen und auch über internationale Kooperationen nachdenken. Diese Rollen kann man sich vorstellen, aber das ist natürlich auch noch nicht definiert. Work in progress, würde ich sagen.

CS Also, die große Frage ist, glaube ich, hier auch: Bedarf es eines formellen Friedensschlusses, damit die KfW und andere Entwicklungsbanken anfangen können mit dieser Unterstützung? Ich bin selber keine Russlandexpertin, habe mich aber natürlich in diesem Bereich sozusagen umgehört und habe viele Bekannte, die in dem Feld arbeiten. Und die kluge Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik hier in Berlin hat neulich gesagt: Es ist völlig klar – oder aus der Geschichte dieser Beziehungen in den letzten Jahren, seit 2014, seit dem Überfall auf die Krim und der Annektierung der Krim, wird völlig deutlich, dass Putin und der Kreml erst verhandeln werden, wenn sie glauben, sie können mit militärischen Mitteln nichts mehr erreichen. So. Und die Frage ist dann an uns: Was sind wir bereit zu tun, damit dieser Zustand eintritt? Wir haben ja jetzt schon gesehen, dass die Ukrainer eine Energie, eine Fantasie, ein Durchhaltevermögen, Pragmatismus und auch Transformationsbereitschaft haben, die eigentlich in Europa ihresgleichen sucht; und auch in den unglaublichen, unter großen Kosten entstandenen Transformationsgeschichten Osteuropas nach 99. Die Balten haben wirklich geblutet für den Einstieg nicht nur in die EU, sondern in den Euro, weil sie die Mitgliedschaft in dem Währungsverbund auch als eine politische Rückversicherung gegen Russland empfunden haben. Und wenn ich mir anschaue, was all diese osteuropäischen Demokratien auf sich genommen haben und was die Ukrainer jetzt auf sich nehmen, würde ich sagen, sind die Transformationschancen der Ukraine viel, viel höher, als wir uns das vorletztes – vor dem Frühjahr dieses Jahres haben – Februar, 24. Februar dieses Jahres haben vorstellen können. Und deshalb wäre mein eigenes Petitum zu sagen: Ich würde denen geben, was sie brauchen, damit sie gewinnen.

AB Sie sagten ja auch selbst, dass der Angriff Putins auf die Ukraine ist auch ein Angriff gegen den Westen. Und vermutlich ist das auch eine Zerreißprobe für die transatlantischen Beziehungen, für die US-deutschen Beziehungen.

CS Stimmt.

AB Immer wieder kommt es auch zu Spannungen. Wie schätzen Sie denn die aktuelle Situation zwischen den beiden Partnern ein?

CS Das ist eine wirklich gute Frage, Frau Begisheva. Also ich glaube, man muss ja sagen, das Leben in der Biden-Administration im ersten Jahr war eine Achterbahn. Wir hatten ja noch nach der Wahl diesen Aufstand vom 6. Januar, der, wenn man in Washington lebte und schon einiges gewöhnt war, trotzdem noch mal einen Schock ganz eigener Güte war. Dann gab es sozusagen sehr harmonische Gipfelbegegnungen im Sommer. Dann gab es den riesigen Krach um das französisch-australische U-Boot-Unternehmen und dann diesen schrecklichen Abzug aus Afghanistan. Und dann konnte man erst mal befürchten, dass das nun auch sehr schwierig werden würde, nur unter anderen Vorzeichen, nach wirklich traumatischen vier Jahren von Trump. Aber dann wurde, glaube ich, im späten Herbst von 2021 klar, was der Kreml plante, vor allem den Diensten drüben wurde es klar, und die haben dann auf bis dato nicht dagewesene Weise angefangen, sich mit den europäischen Verbündeten zu beraten und auch mit denen Informationen zu teilen. Das habe ich mittelbar gemerkt über die Reaktionen hier in Berlin, dass Leute gebrieft worden waren und plötzlich also eine völlig andere Zukunft vor Augen hatten. Und das konnte man denen an der Körpersprache ablesen, wie das sozusagen bei denen einsickerte. Und diese Zusammenarbeit ist wirklich vorbildlich. Sowas habe ich in meiner Arbeitserfahrung noch nicht erlebt. Aber sie ist natürlich in Gefahr. Sie ist in Gefahr, weil es auch in Amerika, auf der progressiven Linken, auf der harten Rechten und in der Mitte bei den Leuten, die finden, Amerika sollte sich nicht überall reinhängen, auch Gegner dieses Engagements gibt. Und wenn die Republikaner den von ihnen erwünschten roten Tsunami in den – jetzt in den Zwischenwahlen gehabt hätten, also einen wirklich gewaltigen Sieg in beiden Häusern des Kongresses, dann wäre das für die Biden-Administration, glaube ich, teilweise sehr schwer geworden, diesen Kurs durchzuhalten. Wir haben jetzt sozusagen ein bisschen Zeit gewonnen, aber diese Zeit ist knapp bemessen, nämlich bis 2024, und dann wird diese fundamentale Frage noch mal gestellt.

AB In dieser Diskussion geht es auch immer wieder um Werte. Also Werte ist etwas, auch was unsere Institution, die KfW, sehr beschäftigt. Gerade in Krisenzeiten wird sowas sehr wichtig. Und meine Frage an Sie, Frau Kehr: Glauben Sie, unsere Werte sind gerade in Gefahr?

MK Das möchte ich so nicht glauben. Also ich – mich teilt immerhin noch ein großer Optimismus mit vielen anderen. Und ich glaube, wichtig ist, daran zu glauben: Europa ist erst mal eine Wertegemeinschaft. Und wenn man sich anschaut, für welche Werte wir stehen, dann sind das: Demokratie, Freiheit, Rechtssicherheit, Menschenrechte, also unglaublich wichtige Werte für uns. Und ich bin davon überzeugt, gerade in diesen schwierigen Zeiten, in denen wir uns mit so vielen Krisen konfrontiert sehen, ist es wichtig, Werte als Kompass zu benutzen. Also wir können nicht jetzt schon die Konsequenzen aller Entscheidungen absehen. Aber wenn wir unseren Werten folgen, bin ich sehr, sehr zuversichtlich, dass wir auch gut aus diesen Krisen rauskommen. Das heißt, ich möchte weiter an unsere Werte glauben. Und vielleicht kann ich zur Begründung meines Optimismus hier zwei Punkte noch mal mitgeben: Aus der Ukrainekrise oder aus dem Krieg haben wir ja gesehen, was es heißt, wenn wir unseren – etwas Abkehr von unseren Werten sehen. Und ich glaube, eine gewisse Eigenständigkeit in Europa ist enorm wichtig. Die haben wir aufgegeben für günstige Energie aus Russland. Und was wir aber auch gesehen haben, ist: Aus dieser großen Krise, aus dem Krieg ist für mich schon ein wahrgenommenes Zusammenwachsen in Europa wieder passiert. Und wenn wir jetzt mal wegschauen von dem Kriegsgeschehen und hingucken zu „Was brauchen wir denn, um unsere Zukunft, unseren Wohlstand zu sichern?“, dann – Sie haben es ja, Frau Stelzenmüller, auch schon erwähnt: Der Klimawandel ist da durchaus auch eine ganz, ganz wichtige Komponente, die wir nicht außer Acht lassen können. Wenn man sich jetzt mal ein konkretes Beispiel rauspickt: Rohstoffe sind absolut notwendig für das Erreichen der Klimaziele. Wir brauchen die Rohstoffe für die Technologien, die wir nutzen müssen. Und da spielen ja zwei Dinge eine ganz, ganz wichtige Rolle: Das sind die sozialen Bedingungen und auch die Umweltbedingungen, unter denen die Rohstofflieferungen dann auch erfolgen können. Und da halte ich es für ganz wichtig, dass wir in Europa zusammenhalten, dass wir überlegen, wie wir gemeinsam uns für Europa eben an den Rohstofflieferungen beteiligen können, wie wir mit den Lieferanten sprechen können, eben um diese Werte auch hochzuhalten. Und ich glaube, dass man da als Deutschland viel zu klein ist, dass es den europäischen Blick braucht, und noch viel besser ist natürlich auch der Blick in die USA. Also ich glaube, nur gemeinsam werden wir es schaffen, auch diese Werte eben zum Beispiel – also Rohstoffe ist jetzt nur ein Beispiel, aber ich finde es immer ganz gut, wenn man noch was Konkretes in den Händen hält, wenn man da genau hinschaut. Und da sind wir noch lange nicht da, wo wir sein müssten. Also wir haben uns längst noch nicht alle Rohstoffe gesichert, die wir brauchen, um eben den Klimawandel hinzubekommen. Und auf Menschenrechtsverletzungen und auch Umweltzerstörung muss man schon sehr genau blicken.

CS Darf ich da vielleicht noch was dazu erwidern? Das ist völlig richtig. Ich glaube, wenn man das sozusagen noch auf eine Ebene hochzieht: Wir müssen als sozusagen freiheitlich verfasste Demokratien uns irgendwie in unseren Beziehungen zu Autokratien entwickeln, bei denen wir uns nicht abhängig machen, trotzdem bei den großen globalen Themen wie Klimawandel oder Pandemien kooperieren, aber uns da auch dann nicht sozusagen ans Gängelband nehmen lassen. Und das ist gar nicht so leicht. Und das Beispiel, bei dem das besonders schwierig ist, ist natürlich China. Also der Chef des Bundesverfassungsschutzes, glaube ich, Thomas Haldenwang, hat neulich mal gesagt: Russland ist der Strom, China ist der Klimawandel, geopolitisch betrachtet. Und in der Tat sind unsere Beziehungen da so komplex. Und auch der, ehrlich gesagt, der Wettbewerb – also wir haben ja nicht nur Handels- und Investitionsbeziehungen mit China, sondern wir stehen ja auch in einem Wettbewerb zum Beispiel um Flüssiggas. Die Chinesen haben – wollen ja auch Flüssiggas haben, das wir dringend brauchen. Und gleichzeitig – und das macht die Sache jetzt noch mal final komplizierter – stehen wir auch in einem Wettbewerb mit unseren amerikanischen Verbündeten. Es bahnt sich gerade ein erheblicher Konflikt an um amerikanische Klimaschutzmaßnahmen der beiden Regierungen, den sogenannten Inflation Reduction Act, der in Wirklichkeit ein Paket von Klimasubventionen ist, wo jetzt die europäische und auch die deutsche Wirtschaft Angst haben, dass das dazu führt, dass deutsche und europäische Unternehmen nach Amerika abwandern.

MK Wir sehen das auch schon.

CS Sie sehen das. Das glaube ich Ihnen sofort. Und das Problem ist in der EU, die eine sozusagen, ein gemeinsamer Markt ist, eine Freihandelszone, es sind natürlich diese Art von Subventionen verboten. Und jetzt gibt es auf einmal eine Diskussion in Paris und in Berlin und anderswo: Sollen wir, wenn wir uns das anschauen, wenn wir das schon nicht verhindern können, sollen wir dann auch Subventionen einführen entgegen der ursprünglichen Logik des gemeinsamen Marktes? Das ist ein Riesenthema. Und natürlich ist das auch dann eine Auseinandersetzung, die notfalls der Kreml und Peking auch ein bisschen ausnutzen können, wenn Sie sehen, dass wir uns da gegenseitig – dass wir uns streiten, statt uns um gemeinsame Themen zu kümmern. Also – aber das ist noch mal ein Beispiel dafür, wie jetzt alles zusammenwächst: Die Geopolitik und die Geoökonomie, die Menschenrechtsthemen und die harten Wirtschaftsthemen.

MK Umso wichtiger, sich zu verbünden. Wenn jeder alleine kämpft, wird es noch schwieriger.

CS Ja, aber dann ist die Frage: Müssen wir nicht zurück zu irgendeiner Form von Wirtschaftsarrangement zwischen den USA und Europa, das so aussieht wie eine Freihandelszone, ja? Müssen wir nicht dann im Verhältnis zueinander Subventionen abbauen? Und das ist natürlich für einen demokratischen Präsidenten, der sich Zeit seines Lebens sozusagen auch was auf sein Verhältnis zu den Gewerkschaften eingebildet hat, ein ganz großes Thema. Und natürlich ist bei uns auch angesichts des Themas Deindustrialisierung der soziale Frieden für eine sozialdemokratische Regierung ein großes, großes Thema, ein mögliches Konfliktthema. Und ich glaube, das wird uns alles noch schwer beschäftigen: wie man diese Dinge sozusagen ins Lot bringt, ohne dass da richtige politische und gesellschaftliche Konflikte ausbrechen.

MK Wir sprechen ja über Werte. Demokratische Werte sind mir persönlich auch unglaublich wichtig. Aber das, was Sie jetzt ansprechen, zeigt ja: Es ist jetzt schon dringend. Und die Fähigkeiten der Demokratie sind ja oft nicht – liegen nicht in der Geschwindigkeit. Wie schätzen Sie das ein? Also demokratischer Prozess braucht Zeit und bringt, glaube ich, da auch einen großen Mehrwert mit sich. Aber wenn wir jetzt über die sozialen Konflikte und so sprechen, dann drängt es.

CS Ja. Das ist ein Problem, das uns alle beschäftigt und auch mich als studierte Verfassungsjuristin. Die deutsche Demokratie ist ja nach 45 ganz bewusst so wieder aufgebaut worden, mit einer Architektur, in der Macht sozusagen nach – in die Breite und in die Tiefe verteilt wurde, ja? Also möglichst viel und breite Gewaltenbalance und Föderalismus, um sozusagen so eine Zentralisierung der Macht und die Entstehung von autoritären Strukturen zu verhindern. Wir haben außerdem eine ganz, ganz sorgfältig austarierte Konsenskultur zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, das sogenannte Rheinische Kapitalismusmodell. Und noch komplizierter wird es dann bei der Wehrverfassung, aber das lasse ich jetzt mal beiseite. Aber das macht – das ist der Grund, warum die Bundeswehr so schwer zu reformieren ist, zu transformieren ist. Aber das Problem ist natürlich, dass diese  

MK Aber Sie sprechen mit „wir“ jetzt von der Bundesrepublik?

CS Ja, natürlich, immer in diesem Fall. Aber das Problem ist tatsächlich, dass diese sehr auf Konsensbildung ausgerichteten Strukturen, die für Friedenszeiten, glaube ich, wichtig und richtig waren – in Krisenzeiten und wenn es darum geht, schnell zu reagieren, dann nicht mehr so gut funktionieren. Und ich glaube, das kann man nur – ich möchte gar nicht einer irgendwie Änderung dieser Strukturen das Wort reden. Aber dann muss man das überbrücken mit guter Kommunikation durch die leitenden Personen. Dann braucht man Minister und auch einen Bundeskanzler, die sozusagen sehr proaktiv und sehr energisch erklären, was das Problem ist und warum sozusagen schnell gehandelt werden muss.

AB Also eine Art Vorbildfunktion einnehmen?

CS Ja, aber auch eine Erklärfunktion und auch sozusagen Richtung vorgeben. Nicht nur, wie es die Verfassung sagt, für die Minister, sondern auch für die Bürger und sozusagen: So wie – Merkel hat das ja auch nicht gemacht, die Vorgängerin, die Bundeskanzlerin Merkel. Sie hat ja auch sehr ungerne ans Volk gesprochen. Wenn sie es dann mal tat in der Pandemie, war es – hat es dementsprechend Aufsehen erregt, war dann aber auch sehr wirkungsvoll. Und ich glaube, dass man in Lagen wie diesen – es ganz gut wäre, wenn ein Bundeskanzler häufiger mal einfach sagt: Ich erkläre jetzt mal, was hier das Problem ist und was zu tun ist. Das ist natürlich auch Veranlagungssache, aber manchmal kann man auch Sachen lernen.

AB Das Thema Nachhaltigkeit: Die KfW versucht ja, eine Vorreiterrolle bei diesem Thema einzunehmen, in vielerlei Hinsicht: durch die Finanzierungen, durch das eigene Beispiel. Vielleicht können Sie uns ein bisschen was dazu sagen.

MK Ich würde sagen, die Nachhaltigkeit liegt in unseren Genen. Wir haben ja den Auftrag, die Wirtschaft und die Gesellschaft dabei zu begleiten, bis 2045 klimaneutral zu werden bei einer 1,5-Grad-Erhöhung. Das ist eine große Aufgabe. Und um das so ein bisschen in Zahlen zu fassen: Wir werden das nicht allein mit Fördergeld schaffen. Wir glauben, dass wir in Deutschland – wir sind immerhin der sechstgrößte CO2-Emittent –, dass wir bis 2045 über 6 Billionen Euro benötigen, um eben diese Transformation zu stemmen. Und wenn wir das sehen, da ist es absolut notwendig, die Wirtschaft mitzunehmen, privates Kapital zu mobilisieren und eben diese Transition auch zu begleiten und sich jetzt nicht nur einer grünen Ideologie hinzugeben, sondern es bedeutet auch einen Wandel. Und da sind wir mittendrin. Ich glaube, da ist die KfW auch sehr, sehr gut aufgestellt. Aber es wird kein leichter Weg. Und ich habe mal einfach drei Beispiele mitgebracht, damit man das vielleicht ein bisschen greifen kann. Ein relativ modernes Beispiel: grüner Wasserstoff. Die KfW hat eine Plattform gelauncht, gemeinsam mit dem BMZ und dem BMWK, die heißt PtX ...

AB Das BMZ und das BMWK sind die beiden Ministerien, in deren Auftrag die KfW tätig ist. Das ist zum einen das Bundesentwicklungsministerium und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima.

MK ... PtX, das ist weltweit die erste Finanzierungsplattform für grünen Wasserstoff. Das ist ein Angebot von komplementären, bedarfsgerechten Förder- und Finanzierungsinstrumenten eben für diesen anstehenden Marktanstieg. Und das halten wir für sehr, sehr wichtig: dass wir eben mit Fördergeldern auf neue Technologien setzen, eben um diese Technologien „bankable“ zu machen und auch damit in den Finanzsektor zu treiben. Und das hat in der Vergangenheit zum Beispiel mit Offshore-Windparks und so sehr, sehr gut funktioniert. Und wir sind uns sicher, dass wir hier bei grünem Wasserstoff da auch entsprechende Impulse setzen können.

Zweiter Punkt: Wir haben ja die KfW Entwicklungsbank, da sind wir nicht nur mit dem deutschen Fokus unterwegs oder europäischem, sondern weltweit. Da haben wir Produkte, die sich auf die sämtlichen 17 SDG-Ziele beziehen. Wir haben ja jetzt auch über mehr gesprochen als nur CO2. Wir sprechen auch über soziale Ziele. Und für uns ist wichtig, alle 17 Ziele im Blick zu haben, gleichwohl die Umweltziele für uns schon sehr, sehr oben auf der Liste stehen.

CS Und SDG sind die Social Development Goals der Vereinten Nationen. Das muss man dazu erklären.

MK Das ist richtig, das stimmt. Also da geht es auch um Wirtschaftsziele. Also wir können nicht nur sozialen oder ökologischen Zielen uns hingeben, sondern wir brauchen eine funktionierende Wirtschaft, um das auch finanziell stemmen zu können. Und die KfW hat ja auch viele Töchter, also zum Beispiel die KfW Capital, die über den Zukunftsfonds hier auch Innovationen, Start-ups finanziert.

AB Mit Mitteln des Marshallplans.

MK Genau. Also da schließt sich der Kreis. Und das sind jetzt einfach nur mal ein paar Beispiele, um zu zeigen: Uns ist das Thema sehr, sehr wichtig und wir sehen uns immer als Ankerinvestor. Aber wir sind auch überzeugt: Wir werden die Dinge ja nicht alleine stemmen können, sondern ganz im Gegenteil: Es braucht eine funktionierende Wirtschaft, um das auf die Beine zu stellen.

CS Aber das ist auch wirklich stark, was dieser Marshallplan alles hervorgebracht hat letztlich.

MK Ja.

CS Beschäftigt Sie nicht das Thema Verhältnis Staat und Wirtschaft und Ihre Scharnierfunktion da? Also mein Eindruck ist, dass gerade in dieser Kriegssituation, die ja doch ein Großteil wegen der Energiepreise und der Versorgung – und der Gasversorgungskrise eigentlich fast die gesamte deutsche Wirtschaft erfasst, gibt es so zwei gegenläufige Tendenzen und da würde mich wirklich interessieren, wie Sie das sehen: einerseits eine Sehnsucht nach dem Staat, der jetzt ganz viel Garantien gibt und der auch die Preise drückt und die Versorgung sichert, und andererseits der Angst vor der Bevormundung durch den Staat. Wie kommt das? Das muss doch bei Ihnen täglich anlaufen.

MK Ja. Also ich muss dazu sagen, ich selbst bin Volkswirtin. Insofern glaube ich an Angebot und Nachfrage. Und da sind jetzt natürlich diese Eingriffe schon in Teilen ganz schön schwer zu nehmen. Ich glaube nur, man muss vielleicht in Phasen unterscheiden. Also jetzt in dieser Phase der Krise, wo es wirklich um Versorgungssicherheit in der Energieversorgung geht, da ist es in meinen Augen schon sehr, sehr wichtig, dass der Staat entsprechend eingreift. Ich glaube, man muss früh genug wissen: Wann ist eine Bremse zu ziehen und wann müssen wir wieder marktwirtschaftlich denken? Und das wird sicherlich sehr, sehr schwierig sein. Im Moment, denke ich, sind wir noch in dieser Krisenphase. Da jetzt auch passgenau unterwegs zu sein, halte ich auch für ganz, ganz schwer, denn – wir haben eben darüber gesprochen –: Demokratie kann vielleicht etwas verlangsamen. Ich finde, in der Krise waren wir schon ganz schön schnell an vielen Stellen. Wenn wir zu Corona zurückgucken – also ich finde, das war ein super Beispiel auch für die Fähigkeit zwischen Staat und KfW und Wirtschaft, zusammenzuarbeiten. Wir haben in 2020, am 11. März 2020, Gespräche mit den Ministerien gehabt, wo klar war: Corona, die KfW muss unterstützen, damit die Unternehmen nicht zu viele Mitarbeitende entlassen und wir in eine große Massenarbeitslosigkeit stürzen. Am 6. April gab es die ersten automatisierten Zusagen, am 8. April die erste Zahlung. Also nicht mal einen Monat ist vergangen. Und das hat die KfW ja nicht alleine gemacht, sondern eben mit dem Eigentümer, den Ministerien gemeinsam, aber auch mit dem Netzwerk, mit den Finanzierungspartnern, die dahinterstehen, am Ende circa 1400 Banken. Also das ist enorm gewesen, was da die Krise entfacht. Also wenn es richtig drauf ankommt, hat man es geschafft. Und das ist für mich so ein Treiber für Optimismus. Ich glaube, wir müssen uns viel mehr auf diese Dinge besinnen und genau passgenau überlegen: Auf was kommt es wirklich an? Wir müssen messen, was wir erreichen wollen, damit wir wegkommen von schönen Erzählungen hin zu: Was sind die Ziele, die wir jetzt erreichen müssen? Und was sind vielleicht welche, die dann in 2030 folgen? Aber diesen Zeitablauf müssen wir schon getrennt betrachten.

CS Und da muss man dann, glaube ich, irgendwie zu einem Verständnis kommen, wie diese Phasen aussehen.

MK Ja.

CS Also nach allgemeiner Einschätzung ist es ja sozusagen – hat uns ja Herr Putin einen Gefallen damit getan, dass er angefangen hat, an dem Gashahn zu drehen zu Beginn des Sommers, sodass wir alle Zeit hatten, die Gasspeicher zu füllen und natürlich weltweit auf den LNG-Spotmärkten LNG einzukaufen und diese Terminals zu bauen. Das ist alles viel schneller passiert als erwartet, sodass wir vermutlich als Deutsche und als Europäer da durchkommen und als Deutsche sogar noch einfach so Reverse-Flow-Kapazitäten haben für Nachbarstaaten, die in Not sind. Das Problem werden die nächsten Winter und die nächsten Phasen. Das heißt, diese Übergänge von der Krisenphase zu den nächsten – wie definiert man das als Politik? Wie definiert man das als Wirtschaft? Ich glaube, das ist alles noch weit offen. Ich habe da auch keine ...

MK Umso wichtiger, da dann nicht die Zeit zu verschenken und wieder in alte Muster zu verfallen, sondern zu sagen: Das ist dann der Zeitpunkt, wo wir die strukturellen Dinge angehen müssen.

CS Genau, absolut, richtig, ja.

MK Weil, wenn wir das nicht hinbekommen, dann werden wir die Zeit hinten raus nicht einholen.

CS Richtig. Aber das ist doch eigentlich auch – ich meine, wir kommen doch noch mal zu der Frage zurück, finde ich – also wo und wann anfangen in der Ukraine? Ich habe das Gefühl, dass man da auch pragmatisch sein muss. Und – also wenn die Banken und die Unternehmen alle warten auf einen formellen Friedensschluss, dann wird es nie ein Engagement in der Ukraine geben. Ich glaube, da muss man pragmatisch und früh anfangen und meinetwegen mit kleinen Dingen, wie Sie vorhin sagten: auf der kommunalen Ebene – und dann einfach immer weiter. So wie die Holländer früher ihre Polder ausgebaut haben, sozusagen Land aus der See genommen haben, dadurch, dass sie dann so Eichenstämme eingerammt haben und dann Land aufgeschüttet haben. Ich glaube, so muss man auch die wirtschaftliche und demokratische Transformation in der Ukraine mitten im Konfliktzustand vornehmen.

MK Ich glaube, sonst wird es auch für die Bevölkerung in der Ukraine schwierig, an die Werte zu glauben.

CS Richtig. So ist es, genau.

MK Ich glaube, da muss auch ein Rückhalt spürbar sein, der aus Europa kommt.

CS Genauso sehe ich das auch, ja, exakt.

AB Ich möchte gerne auf das Thema Abhängigkeiten zurückkommen. Sie haben selbst mal gesagt – ich zitiere –: Deutschland hat seine Sicherheit in die USA, seinen Energiebedarf nach Russland und sein Wirtschaftswachstum nach China ausgelagert.

CS Also, ja, dieses Zitat verfolgt mich etwas. Aber es ist natürlich auch eine Zuspitzung, aber in der, glaube ich, einiges an Wahrheit dran ist, auch wenn es sozusagen im Konkreten immer komplizierter ist. Ich sehe eine wirklich rasante Entkopplung von der russischen Energieabhängigkeit hier, die beeindruckend schnell ist. Ich sehe auch eine beeindruckend schnelle Substitutionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, hätte man auch nicht so gedacht. Das ifo Institut hat dazu gerade eine Studie gemacht. Das ist bemerkenswert. Also die Dinge können sich doch bewegen, wenn wir müssen.

AB Eine weitere Abhängigkeit betrifft unmittelbar Ihren Arbeitsbereich, Frau Kehr, das ist die Abhängigkeit, technologische Abhängigkeit von den USA in Sachen Cloud-Lösungen. Wie gehen Sie tagtäglich in Ihrer Arbeit damit um? Und glauben Sie als Expertin für die Digitalisierung, wie wir das vermeiden können?

MK Ich glaube, angesichts der großen Aufgaben, die wir haben, ist klar Wir brauchen Technologie und Innovation, um da weiterzukommen. Und da hilft uns auch keine fantasievolle Welt, wo wir sagen, wir wollen uns nicht abhängig machen.

CS Das hat in der Pandemie, glaube ich, jeder gelernt.

MK Ja, da bin ich Realistin genug. Ich glaube, es ist fair zu sagen, dass wir da ganz schön abgehängt sind in Europa. Und wenn man sich überlegt: Wer sind überhaupt die Anbieter, mit denen wir zum Beispiel zusammenarbeiten können, dann sind natürlich die Amerikaner da ganz, ganz weit vorne, was auch den gesamten Scope, die Entwicklungskapazitäten, die IT-Sicherheitsbedingungen, die mitgebracht werden, die sind einfach sensationell. Und wir müssen uns überlegen: Wie können wir jetzt damit umgehen? Wir können nicht darauf warten oder hoffen, dass wir in Europa ähnliche Leistungen von europäischen Firmen zur Verfügung gestellt bekommen, daran glaube ich nicht. Allein die drei größten Hyperscaler in den USA haben in den letzten zwei Jahren über 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr ausgegeben in ihre Cloud-Lösung. In meinen Augen ist das nicht aufzuholen. Und ich sehe auch keine Initiativen momentan, die dem nachkommen können. Also im Prinzip geht es doch darum, dass wir überlegen: Das sind gewisse Chancen, die können wir nicht liegen lassen, aber die dürfen wir auch nicht einfach blind nehmen und reinstolpern, sondern wir brauchen eine Strategie. Wir müssen überlegen: Was können wir tun? Wie können wir die Cloud nutzen? Aber gleichermaßen auf Dinge achten wie Datenschutz, der uns ja in Europa enorm wichtig ist, was ich auch für einen wirklichen Wert in Europa halte. Also ich verteufle nicht die Datenschutzbeauftragten, sondern finde, dass es ganz, ganz wichtig ist, dass wir uns damit auseinandersetzen. Aber wir haben auch viele Möglichkeiten, Daten tatsächlich zu nutzen. Und dafür müssen wir eben Cloud-Lösungen auch nutzen können. Und das mit einer klaren Strategie, gerade in der Bank, müssen wir hier ganz, ganz sauber abwägen: Welche Daten können wir dort reingeben, welche eher nicht? Also es liegt an uns, jetzt in diesem Umfeld uns zu bewegen. Aber – und das ist schon ein bisschen schade, dass wir in Europa da den Zug verpasst haben –: Ich glaube, da müssen wir eben mit umgehen. Daraus sollten wir lernen und überlegen für Zukunftstechnologien: Wo wollen wir in Europa den Fokus setzen? Was wollen wir in Europa aufbauen? Und die Dinge nicht leichtfertig hergeben, wie man das vielleicht auch mit Fotovoltaikanlagen, der Produktion getan hat. Da waren wir in den 90er-Jahren noch super aufgestellt in Deutschland. Und ich glaube, das ist wichtig: dass wir uns da mal zusammensetzen eben in Europa. Da reicht auch kein deutscher Blick, um zu definieren: Was sind die Felder, die wir besetzen wollen, und welche kritischen Felder sehen wir da?

CS Interessant. Da haben wir, glaube ich, noch viel vor uns.

AB Große Themen, die wir heute besprochen haben. Ich möchte abschließend noch jeweils eine Frage an Sie beide richten. Von Ihnen, Frau Kehr, möchte ich gerne wissen, ob es die KfW noch in 100 Jahren geben wird. Oder ist jetzt mit dem 75. Geburtstag die Zeit gekommen, endlich in den Ruhestand zu gehen?

MK Sie fragen mich, ob wir noch Kindergeburtstag feiern oder schon im Seniorenalter sind?

AB Genau.

MK Also ich denke, wir sind als KfW mittendrin. Ich bin mir sicher, dass wir viel vor uns haben. Und ich glaube, dass die KfW auch ein guter Partner für die Bundesregierung sein kann und sich da auch gezeigt hat. Denn unsere Fähigkeit liegt in meinen Augen schon in der Umsetzbarkeit und Operationalisierung und das wird es auch weiter brauchen. Wir haben viel vor uns und unser Vorstandsvorsitzender sagt ja immer: Wir leben gerade im Jahrzehnt der Entscheidung. Ich denke, es ist auch das Jahrzehnt der Umsetzung. Und wenn wir das gut hinbekommen, dann wird es die KfW auch noch viele, viele Jahre geben. Und ich glaube, es liegt jetzt an uns, den Weg auch so zu ebnen, damit wir hier gut unterstützen können. Dafür ist Resilienz gefragt. Wir transformieren uns in der KfW auch ganz massiv auch nach innen hinein, um uns eben für die Zukunft gut aufzustellen. Und da gibt es viel zu tun.

AB Frau Stelzenmüller, wo sehen Sie die Welt, Deutschland, Europa in einem absehbaren Zeitraum von 5 bis 10 Jahren?

CS Also hoffentlich in einem einigen, sicheren, prosperierenden Europa. Wünschenswert wäre es, wenn die Ukraine dann auf einem sehr klaren Weg dorthin wäre und wenn das auch für andere Nachbarstaaten gälte wie Moldau, Georgien. Wenn ich mir anschaue, wie aktiv die Zivilbevölkerung in Belarus ist. Vorstellen kann ich mir das. Ich weigere mich zu glauben, dass Russland fundamental kulturell anders ist. Ich habe genug russische Bekannte und Freunde. Nicht viele, aber die, die ich kenne, sind absolut überzeugte Demokraten. Manche sind auch ausgewandert. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit. Und vielleicht kann da ja die KfW eine Rolle spielen. Vielleicht kann man ein Erasmus-Programm auflegen für Studenten aus überall aus dem Osten, inklusive Russland und China, die hier bei uns lernen, wie man ein demokratisches Land verwaltet und führt und wie man eine demokratische Wirtschaft führt. Also das Erasmus-Programm ist ja das Stipendiatenprogramm für Studenten aus EU-Ländern. Und ich glaube, wenn man sowas als eine Art von universitärem Marshallplan auflegen würde mit entsprechender Visa-Freizügigkeit für junge Leute, könnte ich mir vorstellen, dass das einfach neue Verbindungen schafft. Also ich bin als junge Studentin – war ich dankbare Empfängerin von amerikanischen Young-Leaders-Stipendien und auch einem 2-jährigen Graduiertenstudium in den USA. Das hat mich nicht zur Amerikanerin gemacht, aber es hat mir gezeigt, dass manche Sachen eben doch auch anders gehen, schneller und energischer gehen als in Deutschland. Und das hat auf mich einen gewaltigen, befreienden Einfluss gehabt damals. Und ich könnte mir vorstellen, dass, wenn man einfach sagt „Kommt zu uns, wir laden euch ein, schaut euch alles an mit den guten – mit dem Guten und dem Schlechten“, dass das vielleicht auch auf Dauer so eine Art von befriedender Wirkung hätte.

AB Ich bedanke mich für das spannende Gespräch.

MK Vielen Dank.

Ich habe zu danken. Danke für die Einladung.

Kommentare (2)

Martha S.

Habe durch den Podcast viel gelernt über die augenblickliche Krisensituation und wie wir sie beherrschen können, indem der Westen zusammenhält! Danke

Sebastian

Toller Podcast! Erstklassige Folge!

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